Ein Austausch über das Dilemma der Besuchsregelungen in den Senioreneinrichtungen

Am 13. März schloss die Diakonie Münster ihre vier Senioreneinrichtungen für Externe. Niemand durfte mehr rein. Der Lockdown in den Altenheimen ging einher mit irritierten Angehörigen, verunsicherten Mitarbeitenden und Bewohnenden. Doch was ist richtig, was ist falsch? Waren die Regelungen zu streng? In einer Gesprächsrunde wurden die unterschiedlichen Perspektiven erörtert und ein Fazit gezogen.

Für viele alte Menschen war es erschreckend, Mitarbeitende in kompletter Schutzausrüstung zu sehen. Auch Leitungskräfte waren extrem belastet – denn so etwas hatten auch Einrichtungsleitungen mit jahrzehntelanger Erfahrung noch nicht erlebt. Fast täglich gab es neue Erlasse vom Land und von den Gesundheitsämtern in Richtung der Träger. Verantwortlich für die Handlung waren einzig und allein: die Einrichtungen.

Mit der Pandemie lebt die Welt, sie muss es ja – irgendwie. Schaut man durchs Brennglas, landet man in Münster, bei Ulrich Watermeyer, Geschäftsführer der Diakonie Münster. „Ich habe 30 Jahre lang dafür gekämpft, dass Altenheime offene Häuser mit sozialem Leben sind. Dann kam Corona – und plötzlich war alles anders.“ Das und die damit einhergehenden Ereignisse ließen ihn nicht los, und so entschloss er: „Wir müssen reden!“. Er lud Angehörige, Mitarbeitende und Bewohnerinnen und Bewohner der Diakonie zu einem Austausch über das Für und Wider der Besuchsregelungen ein.

Die Gesprächsrunde

Am 25. August trafen sich vierzehn Personen – die maximal mögliche Anzahl unter Corona-Bedingungen – zu einer Gesprächsrunde im Handorfer Hof. Darunter waren Angehörige, Bewohnende, Mitarbeitende und Leitungskräfte. Als Moderator hatte Watermeyer Pfarrer Thomas Groll gewonnen. Er ist Klinikseelsorger im Ev. Krankenhaus – und bewies wieder einmal seine Haltung: Wertschätzung gegenüber allen Anwesenden und ihren Positionen und eine Diskussion mit Augenmaß. Alle Teilnehmenden schilderten ihre Eindrücke hinsichtlich der Kontaktbeschränkungen. Manchmal war es sehr still im Raum, weil die Berichte bedrückend waren.

„Es ist schlimmer als im Krieg“, zitiert Iris Würthele aus dem Matthias-Claudius-Haus eine Bewohnerin. „Wenn Bomben fielen, wusste man: das ist irgendwann vorbei. Doch der Virus verbreitet Angst und Schrecken, er ist unsichtbar und man weiß nicht, wie lange er noch bleibt.“ Weil es im Haus einen Verdachtsfall gab, erließ das Gesundheitsamt vom Kreis Steinfurt, dass 20 Bewohnende innerhalb des Hauses umziehen mussten. Der Zwangsumzug wurde als notwendig deklariert, um Infizierte zu isolieren. Nach dem Umzug stellte sich heraus, dass niemand sich infiziert hatte. Vorher jedoch spielten sich Dramen ab. Verpflanz‘ mal einen alten Baum…

Ein Dilemma:  Sorge für den Leib oder Sorge für die Seele?

Inge Clephas, die seit elf Jahren in einer Servicewohnung der Diakonie neben dem Martin-Luther-Haus lebt, berichtet: „Mich bedrückt, dass ich viele Bewohner kaum noch kenne. Viele sind in den letzten Monaten verstorben. Ich fühle mich nicht wohl dabei, ins Haus zu gehen, weil ich Angst habe, dass ich jemanden anstecken könnte. Ich weiß ja nicht, ob ich das Virus in mir trage.“  Ein Angehöriger, dessen 96-jährige Mutter im Handorfer Hof lebt, stellte während der Hochzeit der Pandemie immer wieder in Frage, ob die strengen Regelungen – keine Besuche, völlige Abschirmung der Bewohnenden für Externe – wirklich der richtige Weg sei. „Corona war ein großer Einschnitt für meine Mutter. Sie konnte nicht mehr einordnen, warum Mitarbeitende in Schutzkleidung herumliefen. Ich empfand lange Zeit eine Schieflage: meines Erachtens waren die Schutzmaßnahmen im Handorfer Hof weitaus strikter, als es die Vorgaben der Stadt Münster vorsahen.“ Das Haus war als erste Senioreneinrichtung von der Pandemie betroffen.

Pfarrer Groll bezeichnet den Zustand als Dilemma: Man ist gezwungen, zwischen zwei gleichermaßen unangenehmen Dingen zu entscheiden. Konkret: Wähle ich die Sorge um den Leib oder wähle ich die Sorge um die Seele? Es sind zwei Pole, es ist und bleibt ein Spannungsfeld. Entscheidungen sind notwendig und fallen doch schwer. Folgen bleiben nicht aus.

Klaus Wienker, Einrichtungsleiter vom Haus Simeon, nahm bei verschiedenen Mitarbeitenden ein wachsendes depressives Verhalten wahr. Eine Ehrenamtliche berichtet, dass sie monatelang zuhause gesessen habe und sich selbst völlig einsam fühlte. Seit zwei Wochen ist sie nun wieder in einer Einrichtung im Einsatz. „Das tut mir sehr gut“, sagt sie.

Gab es auch etwas Gutes?

Doch die Zeit der Krise hat auch Positives hervorgerufen: Da wären beispielsweise die zahlreichen Künstlerinnen und Künstler, die kostenlose Hofkonzerte gaben. „Die wunderschönen Konzerte haben uns begeistert, uns wurde richtig etwas geboten“, so Frau Becker, Bewohnerin im Handorfer Hof. Gottesdienste unter freiem Himmel hatten eine besondere Note. „Wir haben von den Handorfern viel Solidarität erfahren“, so Andrea Kielmann, Einrichtungsleitung. Ralf Schmidt, Technikchef im Matthias-Claudius-Haus und MAV-Mitglied berichtet: „Es gab einen unglaublichen Teamgeist und Zusammenhalt unter den Kollegen, die doch alle sehr belastet waren.“

Das schönste Kompliment in Richtung der Mitarbeitenden kam von einer Bewohnerin: „Ich möchte ein herzliches Dankeschön an das Pflegepersonal richten, die uns wirklich gut betreut haben und auch ein herzliches Dankeschön an die Betreuerinnen und Betreuer, die gut für uns sorgten.“

Vom Umgang mit dem Dilemma

Die Häuser haben Erfahrungen gesammelt, genügend Schutzkleidung und gelernt, mit der Situation umzugehen. Es bestehe eine hohe Disziplin seitens der Mitarbeitenden. Niemand will der oder die Erste sein, die den Virus ins Haus bringt. Die Abstands- und Hygieneregeln werden von den Angehörigen überwiegend eingehalten.

Am Ende der zweistündigen Diskussion zieht Thomas Groll ein Fazit:
„Wir wissen nicht, wie es mit Corona weitergeht. Doch es bleibt ein Dilemma zwischen Gesundheitsschutz und gesellschaftlicher Teilhabe. Ein Dilemma darf nie zu Lasten nur einer Seite entstehen. Deshalb lassen Sie uns vernünftig miteinander reden und immer wieder aushandeln, was möglich ist.“ Ein Schlusssatz, mit dem sich alle Beteiligten wohlfühlten.

 

Autorin: Andrea Lameck, Unternehmenskommunikation Diakonie Münster