Leute, was ist denn jetzt los? Wir haben in Deutschland doch ganz schön was geschafft! Aber jetzt? Wo sind die Erinnerungen an die Bilder aus Italien geblieben?

Die „Helden“ des Alltags geraten in den Hintergrund. Die Verrückten schieben sich in den Vordergrund. Ich dachte immer, das Coronavirus sei das Problem. Gestern im Report aus Mainz: Ein italienisches Dorf seit 79 Tagen in Wohnzimmerhaft, zwei Drittel eines Altenheims tot, das andere noch auf der Intensivstation – noch… Die Leute dort finden den Lockdown total ätzend! „Aber nur so schaffen wir es – wir machen weiter!“ Jetzt laufen bei uns Leute mit Plakaten rum: „Lasst dem Leben wieder seinen Lauf!“ Die Leute toben, wollen endlich wieder Chillen im Park, den Supergrill auf Partys ausprobieren und: nach Malle! Das nennen sie „Leben“… Verantwortliches Denken und Handeln für notwendige Lockerungen sehen anders aus…!

„Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.“

Na, erraten? Genau: das sagt der Mephistopheles in Goethes Faust! – „Corona verändert die Welt zum Wesentlichen!“ hat einer gesagt. Und von anderen höre ich, sie machen jetzt alles anders und starten ganz neu. Ob das überhaupt geht – also, ganz grundsätzlich und nicht nur jetzt, wo es überall brennt? Mephistopheles, sagt: Neu? – Geht nicht! Du bleibst doch immer, was du bist. – Schrecklich – kommen wir aus den alten Nummern nicht heraus?

Moment, muss das überhaupt sein? Ist neu immer gut? Ist nicht Treue und Ausdauer wichtiger, als Panikreaktion oder überhaupt, jeden Modespaß mitzumachen? Aber vielleicht ist das gar nicht die Frage? Denn warum sollten wir das Neue eigentlich wirklich wollen, wenn wir uns so herrlich eingerichtet haben?! Warum Wohlfühlzonen aufgeben? Warum nicht: „Weiter so!“?

Erich Kästner hat einmal gesagt, dass wir Menschen im Kopf immer das Neue haben. Stimmt: menschlicher Verstand strebt nach Erkennen, Erforschen, nach Erprobung von Ungewohntem, nach Aufbruch und Abenteuer – sonst wäre die Welt stehen geblieben und wir hätten kein Penicillin und Mobiltelefon! – Aber zugleich sagt Kästner, haben wir in unserem Herzen immer das Alte! Stimmt auch: wir sehnen uns nach Gewohntem, Vertrautem, Bekanntem, Verlässlichem und Liebgewordenem – sonst würden wir uns schnell heimatlos vorfinden! Kästner hat es verstanden: wir Menschen leben immer in der Spannung von Veränderung und Beständigkeit. Nur müssen wir immer genau entscheiden, wann was dran ist. Wir müssen abwägen, was wir behalten und wovon wir uns trennen müssen. Schwierig ist dabei, dass es eben nicht so einfach geht, das Gute zu behalten. Wir leben in Zeiten, in denen wir uns von Liebgewordenem trennen müssen, weil wir es uns nicht mehr leisten können. Das gilt jedem in seinem persönlichen Leben und Umfeld, und das gilt auch für unser Land und für die globale Welt. So wird es bei allem wichtig sein, nicht zu vergessen, dass gute Tradition nie die Bewahrung der Asche ist, sondern die Weitergabe des Feuers! Das wäre der Maßstab für alles Neue und Alte.

Der Paulus mahnt, uns im Geist Gottes erneuern zu lassen. Das ist das Ziel Gottes mit uns. Gottes Geist will wie ein lebendiges Feuer in uns brennen. Neues und Altes müssen feurig sein, damit wir angesteckt werden und dieses Feuer auf andere überspringen kann! Du bleibst doch immer, was du bist? Der Sieger über Grenzen, den Tod und alle Teufel dieser Welt straft den Mephistopheles als das was er ist: „Geht nicht? Du Lügner! Siehe, ich will ein Neues schaffen. Du musst Dich nur dafür öffnen und es zulassen.“

Wie überlebt man als Gesellschaft in widrigen Umständen?

„Gemeinschaften entstehen nicht durch Gefühl oder reines Wohlwollen Sie erwachsen aus einer gemeinsamen Anstrengung.“ Recht hat er, der Larry Harvey, (Mitbegründer des berühmten Burning-Man-Festivals, das einmal jährlich in der Wüste von Nevada stattfindet).

Lasst dem Leben seinen Lauf?

Na klar, doch! Aber mit Verstand, Besonnenheit, Nüchternheit und der Bereitschaft – auch wenn es total ätzend ist! – durchzuhalten und die Ausdauer zu trainieren! Oder mit Harvey: nur durch gemeinsame Anstrengung!

Lieben Gruß, Pfarrer Lothar Sander