Mona kann pfeifen!

Da hält die Vierjährige mit ihrem Fahrrad vor mir an: „Du, ich kann jetzt pfeifen!“ Hey, mach!“ sag ich verblüfft – jetzt nicht über die anscheinend neue Fähigkeit, sondern über die mich überraschende Ankündigung. Und das kleine Mädchen spitzt die Lippen, bekommt diesen typischen VollKonzentriertAufGroßeTatenInSichVersunkenBlick und heraus kommt ein feiner Pfeifton! „Na?!“, fragt sie. Und ich: „Cool, probiere ich auch gleich mal“. Klappt aber nicht. „Du musst erst die Lippen nass mach – schau mal, so!“ „OK!“ – dann klappt´s auch bei mir…

Stell Dir mal vor: ich komme an und sage, „Ich kann jetzt 30 Liegestütze und freihändig auffem EBike fahren!“ – Als alter Pädagoge erinnere ich mich, dass man so ein Kinderverhalten „Naiven Subjektivismus“ nennt – erinnere ich mich jedenfalls so ungefähr. Also ganz bei sich sein, einfach und schlicht die Welt aus der eigenen Perspektive sehen und entsprechend zu reden und zu handeln – absolut wichtig zur Identitätsbildung. Also nicht horizontumfassend, alle Aspekte einbeziehend, sich selbst in Relation zu setzen – na, Erwachsener sein, eben.

Häufig habe ich die Schnauze vom Erwachsensein total voll! Zeitungen abbestellen, keine Newsletter mehr, Glotze nur noch für Blockbuster… „Warum nicht? Auch mal so tun, als wär das Leben nicht schwer. Einfach so tun, als wär die Welt immer fair. Auch mal so tun, als wär doch alles so gut und alles im Lot und keiner hat Not. Warum nicht?“ Woher geklaut? Curse! OldscoolHipHop 2001! Ja, warum nicht? Einfach so tun, als wär wieder alles normal.

Sehnst Du dich nicht auch danach, einfach umschalten zu können! Einfach das Thema zu wechseln! Einfach die Augen, die Ohren, die Sinne auf etwas Schönes zu richten, weil Du es auch satt hast, den ganzen Tag – und die Nacht! – von Hässlichem  verfolgt zu werden? Die Welt im Großen und Kleinen ist auch ohne Seuche so voll davon, dass Schönes kaum noch Chancen hat, wahrgenommen zu werden. – Gut, ich will nicht die Augen verschließen! Das führt nur dazu, dass ich mich selbst betrüge und den Scharlatanen und dem Hässlichen zum nützlichen Idioten werde – ohne mich! Nee, mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stehen und den Blick darüber hinaus nicht zu verlieren – das wäre Lebenskunst, gerade jetzt!

„Seitdem die Politik eine Lockerung der Corona-Maßnahmen verkündet hat, sind Deutschlands Parks und Straßen wieder voller. Erleichterung liegt in der Luft“, schreibt DieWelt am Wochenende. Und wieder Curse: „Warum nicht, he? Warum tun wir nicht so, als ob alles ok wär’?“ – Endlich wieder shoppen und bei VW, maskiert, als wäre man ein Krimineller, einen neuen Diesel kaufen! Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, die Moderatorin beim Wissensmagazin Quarks fragt: „Stimmt das eigentlich, dass wir wieder in die Normalität einsteigen können? – Wir haben die doch erst, wenn der Impfstoff da ist!

Mal so tun, als wär das Leben nicht schwer?! Nee, stop, da fällt mir noch was ein. Der liebe Gott sagte mal zu einem seiner Leute, der Totalpanik vor einer Herausforderung hatte:

„Sei getrost und unverzagt. Erschrecke und entsetze dich nicht.
Denn ich der Herr, dein Gott, bin mit dir, wohin du gehst und bei allem,was du tun wirst!“

Hey, gehen und tun musste der selbst – aber eben nicht allein! Und seine Panik zeigt, dass der sich genau informiert hatte und wusste, was ihm Angst machte. Mit dem und der Mai Thi Nguyen-Kim will ich es halten: leidenschaftlich fragen, sauber recherchieren und dann hoffentlich verblüffend die Herausforderungen voll Vertrauen meistern.

Mona kann jetzt pfeifen! Und der traue ich zu, dass sie eines Tages ihren jetzt absolut wichtigen naiven Subjektivismus überwunden hat und erwachsen geworden ist. Dir und mir wünsche ich, dass wir cool oder eben erwachsen bleiben. Seitdem die Politik die Lockerung der Corona-Maßnahmen umsetzt, glauben die Leute hier erleichtert, wieder zur Normalität und in Pulks in die Fußgängerzonen zurückkehren zu können. Wow, wie naiv und gefährlich! Das ist doch trügerisch! Das ist ein schlimmer NaiverSubjektivismus.

Die Pandemie ist nicht vorbei. Erst wenn wir den Impfstoff haben, können wir wirklich durchatmen – und zwar nicht im Koma an entsprechenden Maschinen. 30 Liegestütze? Muss keiner… Pfeifen wie Mona? Schon besser! Pfeif auf ungeduldige Schnellschüsse.

Behüte Dich und andere. Und sei getrost und unverzagt. – Warum nicht?!

Pfarrer Lothar Sander